Beeindruckend: ‚Halt auf freier Strecke‘ von Andreas Dresen ****

Frank Lange, ein Mann um die Vierzig, arbeitet im Innendienst bei DHL, seine Frau Simone ist Strassenbahnfahrerin. Mit der Tochter Lilly (14) und dem Sohn Mika (8) haben sie vor kurzem die Hälfte eines modernen Doppelhauses mit Blick in die freie Natur am Rande Berlins bezogen – eine ganz normale Familie, einfache, freundliche Leute von Nebenan. Dann fällt plötzlich und unerwartet ein Todesurteil: der Neurologe teilt den Eheleuten nüchtern mit, dass Frank an einem bösartigen Gehirn-Tumor leidet, nicht operabel. Auf die Frage, wie lange er noch zu leben habe, erhält er die etwas vage Antwort, dass es sich um einige Wochen oder wenige Monate handeln könne.
Andreas Dresens knapp zweistündiger Spielfilm schildert diese kurze Rest-Lebensspanne Franks vom buntbelaubten Herbst bis zur winterlichen Nach-Weihnachtszeit. In klug ausbalancierten Sequenzen zeigt er den körperlichen und geistigen Verfall des Mannes: wie er langsam die Kontrolle über seinen Körper verliert, die zunehmenden Schmerzen, Gehbehinderungen, Inkontinenz und schliesslich die totale Bettlägrigkeit, das Unvermögen, zu sprechen und den geistigen Dämmerzustand. Zugleich beobachtet der Film die kleine Familie des Todkranken:  Simone, die sich auf Rat einer Palliativ-Ärztin entschliesst, Frank bis zum Ende zu Hause zu betreuen;  die beiden Kinder, die gelegentlich ungeduldig (wenn ein Ausflug abgebrochen werden muss oder Freundinnen nicht mehr zu Besuch kommen wollen), dann aber wieder tapfer und liebevoll sich dem sterbenden Vater gegenüber verhalten.
Dresen zeigt die Vorgänge ganz direkt und unsentimental. Die erschütterten Eltern von Frank kommen aus MeckPom zu Besuch, eine alte Freundin nimmt ihn noch einmal in die Arme, ein Arbeitskollege versucht zu helfen so gut es geht. Manchmal rastet Frank aus – eine Folge der Krankheit – , beschimpft seine Umgebung, wirft seiner Frau die Krücken hinterher; Simone ihrerseits, doppeltschwer belastet durch Haushalt und Pflege, verliert dann die Nerven – es kommt zu unschönen Auseinandersetzungen, auch vor den Kindern. Das Ende ist friedlich, Frank schläft an einem Winternachmittag sanft ein, Simone und Lilly sitzen am Bett, halten seine Hand. Dann öffnet Simone die Balkontüre, lässt frische Luft eindringen, und Lilly meint, sie müsse nun zum Sport-Training.
Dresens grosse Kunst besteht in einem direkten, schnörkellosen Realismus, der durch hervorragende Darsteller glaubhaft getragen wird: Milan Peschel als Frank und Steffi Kühnert als Simone, die beiden Kinder Talisa Lilli Lemke und Mika N.Seidel, sowie eine Reihe exzellenter Schauspieler, darunter – neben einigen Laien-Darstellern -  Ursula Werner, Otto Mellies, Bernhard Schütz u.a. , die die zahlreichen Nebenrollen lebensecht verkörpern.
Interessant an diesen neuen Werk von Dresen ist auch, dass er den von ihm inzwischen meisterhaft beherrschten Film-Realismus immer wieder kurz durchbricht, indem er grobkörnige Bilder und Spotts einblendet, die Frank mit seinem Smartphone von sich und seiner jeweiligen Umgebung aufnimmt. So versucht Dresen, die subjektiven Empfindungen und Wahrnehmungs-Verluste des Sterbenden sichtbar zu machen, etwa in feixenden Selbstporträts oder in einer (nachgestellten) TV-Show-Szene, in der Harald-Schmid den ‚Tumor‘ höchstpersönlich befragt.
Vielleicht sind die Personen dieses Films zu idealistisch gezeichnet, wie manche Kritiker einwenden;  – die Realität jenseits der Leinwand mag noch grausamer und hässlicher sein, aber die Intensität der erzählten Geschichte von Frank und Simone überzeugt, sie berührt den Zuschauer auf ganz unsentimentale Art und bewirkt so eine befreiende Nachdenklichkeit.

Foto/Poster: Pandora Filmverleih

zu sehen: Delphi; International; Kulturbrauerei;Yorck; Hackesche Höfe; Movimento; Blauer Stern; Thalia Potsdam