Luxuriös: ‚Il trionfo del tempo e del disinganno‘ im Schillertheater (Staatsoper) ****

1707 traf der junge Georg Friedrich Händel in Rom ein, wo er als Auftragsarbeit für einen adligen Kleriker und Mäzen sein erstes Oratorium schrieb – geschickt die stilistischen Gepflogenheiten und Erwartungen der dortigen Kunst-Liebhaber einbeziehend. „Il trionfo del tempo e del disinganno“ (Der Triumph der Zeit und der Erkenntnis) ist ein frommer Disput von vier allegorischen Figuren, der das Vergnügen gegen die Vergänglichkeit, die Schönheit gegen Alter und Tod ausspielt – ein schlichtes Parabelspiel als Mahnung zu einem christlich-moralischen Leben. Eine knapp dreistündige Abfolge von vielen Arien und einigen wenigen Ensemble-Szenen, ohne Chor und instrumentale Zwischenspiele. Händel beindruckte mit erstaunlichen, musikalischen Einfälle und schuf einige seiner schönsten Melodien, von denen er noch in seinen späteren Werken erfolgreich profitierte. Bekanntestes Beispiel: die Arie ‚Lascia la spina‘, die später in der Oper „Rinaldo“ als ‚Lascia ch’io pianga‘ ungemein populär wurde.  Das Oratorium selbst geriet schnell in Vergessenheit.
Intendant Jürgen Flimm hat dieses Frühwerk 2003 in Zürich inszeniert und nun für die Staatsoper im Schillertheater neu eingerichtet. Und auch wenn Berlin keine so prominenten Sänger-Stars wie damals Zürich aufbieten kann, begeistert die einfallsreiche und effektvolle Auführung nach wie vor. Flimm verlegt die eher abstrakte Auseinandersezung zwischen Piacere (Inga Kalna) auf der einen und Tempo (Charles Workman) und Disinganno (Delphine Galou) auf der anderen Seite in ein hochmodisches Luxus-Restaurant – dorthin, wo auch heute Schönheit, Eitelkeit und Genuss sich treffen. Erich Wonder hat dafür einen prachtvollen Raum geschaffen -  links weissgedeckte Tische, recht eine riesige Bar, dahinter goldfarben schillernde Lamellenwände – und dazu hat Florence von Gerkan hinreissende Abendroben entworfen, raffiniert im Schnitt zwischen Barock und heutiger Edel-Boutique. Kellner in langen weissen Schürzen wieseln hin und her, die Jeunesse doree wirbelt fröhlich herein und heraus  – ebenso wie merkwürdige alte Männer in schäbigen Anzügen, tanzende Matrosen, betende Nonnen, Kinder und Blinde sowie einmal Georg Friedrich Händel persönlich – mit Jabot und Allonge-Perücke samt seiner fahrbaren Orgel. Und zwischen all dem Luxus-Treiben und den Nobel-Speisen die immer verwirrter werdende Bellezza (Sylvia Schwartz), eine elegante Blondine im dunklen Pailletten-Kleid, die am Ende sich von ihrer Freundin Piacere trennt und sich von Tempo und Disinganno ein Nonnen-Gewand überstreifen lässt. Dann sind die Tische abgeräumt, die Gesellschaft ist verschwunden, das Licht gelöscht und Bellezza singt leise eine letzte, melancholische Melodie: ein Triumph ?
Doch was wäre die schöne und kluge Regie Jügen Flimms ohne die Musik: Marc Minkowski und sein wunderbares Orchester ‚Les Muciciens du Louvre Grenoble‘ lassen – auch ohne Pauken und Trompeten – Händels römisches Oratorium äusserst frisch und zupackend erklingen – frei von allem  sprödem und dünnen Klang alter Musik, dramatisch zugespitzt und ungemein farbig. Sylvia Schwartz beeindruckt als Bellezza durch ihre blendende Erscheinung und samtweiche Piani, Inga Kalna ist eine rothaarig-temperamentvolle Piacere, wenn auch in den hohen Koloraturen etwas spitz, Charles Workman als Tempo und Delphine Galou erfreuen durch schöne Stimmen, ein wenig mehr Ausdruck wäre zu wünschen.
Ein verdienter Erfolg für Jügen Flimms einfallsreiche Inszenierung eines allzu braven Oratorium-Librettos und Riesenbeifall für die mitreissende Gestaltung der jugendlich-genialen Musik Händels durch Marc Minkowski und seine fabelhaften ‚Muciciens du Louvre‘. Ein gelungener Abend.

Foto:Hermann und Clärchen Baus /Staatsoper Berlin

nächste Aufführungen:18./21./24./27./29.Januar 2012