Rätselhafte Vexierbilder: ‚Lulu‘ in der Staatsoper (im Schillertheater) ***

Alban Berg hat bei seinem unerwarteten Tod (1935) die Oper „Lulu“ unvollendet hinterlassen, vom dritten und letzten Akt sind nur einzelne Teile überliefert. Zunächst wurde deshalb das Werk als Torso aufgeführt, seit dem Tod von Bergs Witwe 1976, die sich streng gegen jede Ergänzung zur Wehr setzte, existieren mehrere Versuche, die Oper nach den vorhandenen Skizzen des Komponisten zu vollenden.
Für die neue Inszenierung der „Lulu“ an der Berliner Staatsoper haben Dirigent Daniel Barenboim und Regisseurin Andrea Breth sich eine eigene Fassung erstellen lassen. Der Prolog der Oper und das erste Bild (in Paris) des unvollendeten 3.Aktes sind gestrichen, das zweite (und zugleich Schluss-) Bild (in London) hat der britische (und in Berlin tätige) Komponist David Robert Coleman nach den vorhandenen Vorlagen ergänzt. Dabei wird dieser Bruch nicht verkleistert, sondern ist deutlich höbar – aber nicht störend. Über das Weglassen des sogenannten Paris-Bildes (die 1.Szene des 3.Aktes) kann man sich streiten – diese Diskussion ist aber eher für Musikwissenschaftler als für das allgemeine Publikum von Interesse.
In ihrer Inszenierung verzichtet Andrea Breth (überraschenderweise) auf eine naturalistische oder bühnen-realistische Nacherzählung der Story. Statt dessen bewegen sich die Figuren des Stücks in einer abstakten Choreographie ritueller Gänge und zeichenhafter Gestik. Keine bürgerlichen Salons, keine Maler-Ateliers, keine glamourösen Theatergarderoben oder die ärmliche Londoner Absteige sind zu sehen, sondern eine düstere Einheitsbühne (von Erich Wonder) aus aufgetürmten Schrott-Autos und mit ein paar aus Eisenrahmen angedeuteten, transparenten Wänden. Somnambul huschen oder schreiten Lulu im glitzernden Silber-Pailletten-Kleid, die Gräfin Geschwitz in blauer Robe und viele Männer in grauen oder schwarzen Anzügen oder Mänteln umher – im dämmrigen Licht oft kaum zu unterscheiden. Gelegentlich tauchen auch zwei Doubles der Lulu oder andere undefinierbare Gestalten im Hintergrund auf, meist mit sich selbst beschäftigt, und eine bestimmte Bewegung oder Geste häufig wiederholend. Diese traumartigen Vexierbilder, die immer wieder zu unterschiedlichen, durchaus effektvollen Gruppierungen oder minimalen Aktionen führen, versuchen wohl Gegenbilder zu den komplexen Strukturen der Partitur zu entwerfen, zu ihren musikalischen Parallelen und Verdopplungen, ihren vielfältigen Variationen und zu den zahllosen Vor- und Rückverweisen im kompositorischen Gewebe. Doch die Inszenierung bleibt bei aller Raffinesse im Einzelnen:  eine kaum durchschaubare Kopfgeburt.  Unverständlich besonders für ein Publikum, das mit der Oper nicht vertraut ist. Und theatralisch: ‚einfach (zu) kompliziert‘.

Ganz im Gegenteil dazu: die musikalischen Seite. Daniel Barenboim und die Staatskapelle spielen Bergs Musik als wäre der Wiener Komponist der direkte Nachfolger eines Puccini oder Richard Straus: in satten Farben, aber kammermusikalisch transparent. Mojca Erdman brilliert als Lulu mit musikalischer Souveränität und blitzenden Koloraturen – als Darstellerin gleicht sie eher einem netten, jungen Mädchen, dem man die starke Persönlichkeit und verführerische Kraft einer männer-umschwirrten Frau nicht ganz abnimmt. Michael Volle ist mit kraftvollem Bariton ihr Mentor und Liebhaber Dr.Schön, Thomas Piffka dessen ebenfalls in Lulu verliebter Sohn Alwa – überzeugend durch einen geschmeidig-männlichen Tenor. Deborah Polaski (Gräfin Geschwitz), Jürgen Linn (Schigolch), Georg Nigl (Ein Athlet), Stephan Rügamer (Der Maler) und andere ergänzen überzeugend das ausgezeichnete Solisten-Ensemble.
Viel Beifall für Barenboim, die Staatskapelle und die Sänger, kräftige Buhs für das Regie-Team.

Foto: Bernd Uhlig/Staatsoper Berlin

nächste Vorstellungen: 04./09./11./14.April 2012