Sturm im Kopf: ‚Take Shelter‘ von Jeff Nichols ***

Der Film spielt in Ohio, im ländlichen Amerika, in einer offensichtlich heilen Welt. Curtis ist Angestellter einer Bau-Firma, ordentlich bezahlt, bewohnt mit seiner Frau und der kleinen, hörgeschädigten Tochter ein hübsches Haus mit Garten und ist im Ort ein angesehener Mitbürger. Bis ihn schreckliche Alpträume heimsuchen: Unwetter toben, sein Hund beisst ihm fast den Arm durch, die Tochter wird gewaltsam entführt. Als praktisch-kluger Mann sucht er den Haus-Arzt auf, versucht mit Hilfe von Büchern aus der Stadt-Bibliothek eine Selbstanalyse. Doch sein Zustand verschlimmert sich, vage Bilder einer bevorstehenden Katastrophe bedrängen ihn so stark, dass er glaubt, den Schutzbunker in seinem Garten auszubauen zu müssen, um sich und seine Familien vor drohendem Unheil zu retten. Dabei überschreitet er Grenzen – seine finanziellen Resourcen wie auch das Verständnis seiner Frau, seiner Freunde und Nachbarn. Ist Curtis schizophren? Womöglich erblich belastet, da seine Mutter schon als junge Frau wegen psychiatrischer Erkrankung in einem Heim untergebracht werden musste? Als ein Tornado ausbricht, flüchtet er mit der Familie in den inzwischen ausgebauten Schutzkeller, wo es seiner Frau nur mühsam gelingt, ihn einigermassen zu beruhigen. Nach dem Sturm begibt er sich erneut in ärztliche Behandlung und verbringt – um Abstand zu gewinnen – mit Frau und Tochter einen Urlaub am Meer:  doch auch dort sieht er einen gewaltigen Sturm aufziehen, dieses Mal jedoch erkennt nicht nur er, sondern auch seine Frau die Anzeichen eines kommenden Unheils …
Dem jungen US-Regisseur Jeff Nichols, der bisher nur einen Kino-Film realisierte („Shotguns Stories“, 2007), geht der Ruf eines grossen Talents voraus. Er erzählt in „Take Shelter“ die Geschichte einen einfachen Durchschnitt-Amerikaners, der von Ängsten um seine Familie und um seine Lebensweise heimgesucht wird. Dabei bleibt offen, ob die Bilder des Films die Realität oder bloss die Einbildung des Mannes zeigen. Ist der Film die klinische Studie einer psychischen Erkrankung oder eine Metapher für eine weitverbreitete, allgemeine Unsicherheit der amerikanischen Gesellschaft?  Ein Katastrophen-Drama, das sich nicht in filmischen Materialschlachten austobt oder sich in Fantasy-Welten ereignet, sondern lediglich im Kopf eines Alltag-Helden.
Michael Shannon verkörpert diesen Curtis zwischen kraftvoller Männlichkeit und angsterfüllter Vorahnung mit grosser Eindringlichkeit, Jessica Chastein spielt seine Frau Samantha als sanften, blonden Engel.
Doch nicht immer passen die einzelnen Zutaten des Films zusammen: wild rauschende Bäume, düstere Wolkenballungen, in seltsamen Schleifen ziehende Vogelschwärme oder herabfallende tote Tiere – untermalt von schlagartigen Geräuschen und dräunender Musik –  wirken künstlich und aufgesetzt (auch wenn sie als Zitate gemeint sein sollten). Manche Szenen werden zu breit ausgespielt oder wiederholen lediglich bereits Bekanntes. Und mit über 120 Minuten Länge überschreitet der Film die Geduld des Zuschauers für die Story eines psychisch kranken Mannes, von der bis zum Schluss unklar bleibt, ob sie über den traurigen Einzelfall hinausweist und zur Parabel einer verunsicherten Gesellschaft taugt.
Interessant, aber kaum faszinierend.

Foto/Poster: Ascot Elite Filmverleih

zu sehen: Babylon Kreuzberg (OmU); Central (OmU); u.a.