Kauz und Genie: ‚Mr.Turner‘ von Mike Leigh****

Mr.Turner – der in der deutschen Fassung den Untertitel „Magier des Lichts“ erhalten hat – ist ein kleiner, untersetzter Mann, nicht gerade attraktiv oder sympathisch. Er wirkt ältlich und kauzig und reagiert auf Fragen oft nur mit knurrenden oder grunzenden Lauten, deren Bedeutung erraten werden muss. Er ist – zu Beginn des Films – schon ein anerkannter Maler, seine Bilder – überwiegend weite Landschaftsräume vor dunstig leuchtenden Himmeln -  hängen in der Royal Academie, und adlige Gönner besuchen ihn immer wieder in seinem Londoner Atelier. Dabei lebt er in bescheidenem Wohlstand, hat sich von seiner Frau und den Töchtern getrennt, geht viel auf Reisen aufs europäische Festland oder wandert durch England. Sein alter Vater, ursprünglich ein Barbier, sowie eine ergebene Haushälterin, die Turner gelegentlich auch zur sexuellen Triebabfuhr dienen muss, wohnen mit ihm zusammen, helfen und unterstützen ihn bei der Arbeit, kaufen Mal-Utensilien, ziehen Leinwände auf, mischen Farben.
Bei einer seiner Reisen an die engliche Küste, findet er Unterkunft bei der Witwe Pooth in Margate, lernt die freundliche Frau schätzen und lieben und zieht – einige Jahre später – mit ihr zusammen, während das Atelier in London nach dem Tod des Vaters allein von der braven Haushälterin betreut wird. Es ist die Zeit der grossen Umbrüche: die Industriealisierung breitet sich aus, Dampf- ersetzten Segel-Schiffe, Eisenbahnen verbinden Hauptstadt und Grafschaften.
Turners Bilder werden immer abstarkter, verändern sich zu atmosphärisch-schillernden Farbflächen, die die realen Vorlagen nur noch erahnen lassen – sehr zum Missfallen seiner Malerkollegen, Freunde und Gönner. Die noch junge Königin Viktoria wendet sich bei einem Akademiebesuch entsetzt ab, auf Theaterbühnen wird Turners Kunst dem Gelächter eines konservativ-spiessigen Publikums preisgegeben. Dennoch arbeitet er weiter. Ein amerikanisches Angebot, seine gesamten Bilder gegen einen hohen Preis aufzukaufen, schlägt er aus: seine Werke sollen nach seinem Willen zum grösstmöglichen Teil in Grossbritannien bleiben, öffentlich und kostenlos für jeden Bürger ausgestellt werden. Allmählich machen sich Alter und Krankheit bemerkbar – umsorgt und betreut von seiner Gefährtin stirbt Turner 1851.
Dem Regisseur Mike Leight gelingt (bestens unterstützt von seinem Kameramann Dick Pope) ein hinreissendes Porträt des britischen Malers, das einerseits einen „normalen“ Durchschnitts-Bürger seiner Zeit, andererseits das weit in die Zukunft weisende Genie eines grossen Künstlers sichtbar zu machen vermag. Der Film reiht überwiegend dokumentierte Szenen aus den letzten 25 Jahren des Lebens von William Turner aneinander, ein ruhiger, aber raffiniert geschnittener Bilderbogen, szenisch und optisch ungemein detailreich und im Farbbild ganz der delikaten Palette des Malers verpflichtet. Musik wird nicht gefühlvoll untermalend, sondern als spröder, akkustischer Kontrast eingesetzt.
Das bis in die kleinste Nebenrolle exzellent besetzte Darsteller-Ensemble wird angeführt von Timothy Spall in der Titelrolle, der dafür beim diesjährigen Festival von Cannes als bester männlicher Schauspieler ausgezeichnet wurde – ebenso überzeugend als skuril-kauziger, aber  durchaus pfiffiger Londoner Bürger wie als selbstbewust-genialer Künstler, der sich in seiner Kunst durch Nichts beirren lässt.
Mike Leigh gelingt mit diesem „Mr.Turner“ eine liebevolle, filmische Biographie, die weder gefälliger Kostüm-Schinken noch verklärende Hagiographie ist , sondern das Porträt eines echten, lebensprallen Menschen zeichnet (samt seiner dunklen Seiten), seiner künstlerischen Kraft und seines zukunftweisenden Werkes. Auch wenn in diesem England des 19.Jahrhunderts die Sonne – strahlend oder verhangen – vielleicht etwas zu häufig scheint.

Foto/Poster: Prokino Filmverleih

zu sehen: CineStar Sony Center (OV); Hackesche Höfe Kino (OmU); Rollberg (OmU); Cinema Paris (dt und OmU); Kino in der Kulturbrauerei (dt. und OmU); CinemaxX Sony Center;  Kino am Friedrichshain