Mein Berlinale-Journal 2015

   Plakatmotiv/Foto:Imago/Future Image/Golejewskix

QUEEN OF THE DESERT**
Bio-Pic im üppig ausladenden Hollywoodstil über die englische Historikerin, Archäologin und Orientkennerin Gertrude Bell, die 1915 an der Konferenz über die Aufteilung des Osmanischen Reiches teilnahm, deren Vorschläge für flexible Grenzen jedoch kaum berücksichtigt wurden. Von Werner Herzog (!) zur Schnulze aus 1001er Nacht degradiert, mit einer stehts perfekt gestylten Nicole Kidman in der Hauptrolle – so schick wie belanglos.

45 YAERS***
Kammerspiel über ein älteres Ehepaar im winterlich-ländlichen England in der Woche vor seinem 45. Hochzeitstag, der mit einer Party gefeiert werden soll. Durch Zufall wird Ehefrau Kate damit konfrontiert, dass Ihr Mann Geoff vor ihrer Hochzeit ein intensives Verhältnis mit einer anderen Frau hatte, die jedoch durch einen Unfall in den Schweizer Bergen umkam. Etwas überdramatisierte Beziehungsgeschichte aus dem Blickwinkel der Frau – durch die feinfühlige und ruhige Regie (Andrew Haigh) sowie durch das intensive Spiel von Charlotte Rampling und Tom Coutenay sehr eindrucksvoll.

TAXI****
Neuster Film des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, der seit 5 Jahren unter Berufs- wie Hausverbot steht. Im Film fährt er als Taxifahrer unterschiedliche Typen (gefilmt durch zwei im Auto installierte Kameras) an einem hellen Tag durch Teheran: einen Händler ausländischer Videos, einen Unfall-Verletzten mit seiner (das Testament einklagender)  Ehefrau, einen Anhänger der Todesstrafe, alte Frauen mit Goldfischen im Glas, eine altkluge Nichte, die Anwältin einer aus politischen Gründen inhaftierten Hungerstreikenden. Komisches und Skuriles mischt sich mit Tragischem – wobei offen bleibt: was (von Schauspielern) gespielt, was dokumentarisch oder realistisch ist. Eindrucksvoll in seiner Mischung aus schlitzohrigem Humor und bitterem Sarkasmus über die staatliche Diktatur.

JOURNAL D‘ UNE FEMME DE CHAMBRE***
Neuverfilmung des Romans von Octave Mirabeau durch Benoit Jacquot. Oppulentes Kostümdrama, in dem die drall-adrette Zofe von Léa Seydoux schon recht aufsässig ist – wenn auch nur in (im Off gesprochenen) Gedanken. Etwas beliebig und zusammenhanglos erzählt (mit allerlei Rückblenden)  und ohne die kritisch-intellekuelle Schärfe der Vorgänger-Verfilmungen von Renoir und Bunuel. Wohl aus aktuellen Gründen stark betont: der Antisemitismus des groben Dieners Joseph, mit dem am Schluß die Kammerzofe in eine üble Zukunft zieht.

VICTORIA**
Die Story ist eher banal: eine junge Spanierin, die nach Abruch ihres Klavierstudiums in Madrid in Berlin als Bedienung in einem Schnell-Café jobt, lernt ein paar flotte Typen in einer Disco kennen, verbringt mit ihnen den Rest der Nacht und wird am frühen Morge von den kriminellen Jungs als Fahrerin bei einem Banküberfall in Kreuzberg mißbraucht. Bei der anschließenden Flucht und einer Schießerei mit der Polizei kommen außer Victoria alle um – die junge Frau verschwindet ratlos und konsterniert mit der Geldbeute. Diese Story wird von dem deutschen Regisseur Sebstian Schipper und seinem Kameramann Sturla Brandht Grovlen gleichsam wie in einer einzigen Einstellung erzählt: die Handkamera sitzt den Protagonisten hautnah im Nacken, fährt eng um sie herum, folgt ihnen aus der Disco über nächtliche Strassen auf leere Haus-Dächer, in Aufzüge und gestohlene Autos  – bis nach dem fühmorgendlichen Banküberfall in der Zimmerstrasse die anschließende ebenso konfuse wie blutige Flucht im Luxushotel Friedrich-/ Ecke Behrenstrasse endet. Das duch die wackelnde Handkamera beim Zuschauer erzeugte Gefühl, immer direkt dabei zu sein – verstärkt durch die intensiven Schauspieler mit ihrem berlin-englichen Kauderwelsch (Victoria versteht kaum Deutsch!) – macht den Haupt-Reiz des zweieinhalb-stündigen Films aus: ein tempogeladener, rauschhafter Trip durchs heutige, nächtlich-coole Berlin. Doch hinter diesem  formalistischen Drive und zeitgeistigem Schick  -  viel heiße Luft!

KNIGHT OF CUPS**
Der neueste und siebte Film des amerikanischen Star-Regisseurs Terence Malik (der – wie für ihn typisch – auch bei der Berlinale nicht über den Roten Teppich lief, owohl er in der Stadt sein soll). Die Story – soweit erkennbar : der etwa 40jährige Hollywood-Schauspieler oder Drehbuchautor Rick (Christian Bale) leidet unter einer Sinn-Krise. Die Ehe mit einer Chirurgin (Cate Blanchett) ist zerbrochen, der Flirt mit einer zierlichen Brünetten (Natalie Portmann) bleibt eine kurze Affäre. Erinnerungs-Schnipsel an heftige Auseinandersetzungen mit dem Vater und/oder Bruder belasten das Gemüt des ständig über breite Boulevards kurvenden, oder am Pazifik-Strand wandernden Mimen. Das letzte gesprochene Wort des Films lautet: „Fang an“. Dieser äusserliche wie innerliche Leerlauf wird von einer schier unendlichen, im sekundentakt wechselnden Bilder-Flut überspült – Aufnahmen von Menschen und Landschaften in und um die kalifornische Filmstadt. Brilliant fotografiert und geschnitten – doch mehr als eine glänzende Oberfläche bleibt von diesen titelgebenden  Tarot-Karten nicht übrig.

MR. HOLMES*** (außer Konkurenz)
Der britische Ur-Dedektiv Sherlock Holmes scheint unsterblich. Jetzt, im von der BBC produzierten Film des amerikanischen Regisseurs Bill Condon, ist Mr.Holmes 93 Jahre alt . Kurz nach dem 2. Weltkrieg lebt er zurückgezogen auf einen alten Bauernhof in Sussex, züchtet Bienen und versucht  seinen letzten Fall, den der inzwischen verstorbene Dr.Watson noch als romangerechte Lektüre veröffentlicht hat, neu in redigierten Form herauszugeben, und zwar so, wie er sich wirklich ereignet hat. Doch das alte, einst so messerschaft die rätselhaften Morde analysierende  Gehirn funktioniert nicht mehr so richtig. Auch wenn der pfiffige Junge der harschen Haushälterin sich heftig bemüht diese Erinnerungslücken des kauzigen Mr.Holms zu überwinden, wobei einer japanische Arznei, einem Frauenhandschuh und den Bienen im wünderbar blühenden Garten eine wichtige Rolle zufällt. Hübsche Unterhaltung, gemischt mit britisch-trockenem Humor und einer Prise Nachdenklichkeit über Alterseinsamkeit und Tod – vor allem aber eine Paraderolle für den britischen Star-Schauspieler Ian McKellen, dessen  wacher Durch-Blick und Verstand den mächtigen Alter-Gesichtfalten immer wieder listig ein Schippchen schlagen.

ALS WIR TRÄUMTEN***
Ein Arbeitervorort von Leipzig. Fünf Kumpel kurz nach der Wende. Jetzt können sie endlich mal so richtig „die Sau rauslassen“. Die Schule schwänzen, Autos knacken, Alkohol klauen, in einem verlassenen Keller eine Punk-Disco aufmachen. Dann Bandenkriege, Schlägereien mit Neonazis und schließlich diverse Drogen, die alle Freundschaft und Träume – teils tödlich – beenden. Verfilmung des erfolgreichen Romans von Clemens Meyer durch Regisseur Andreas Dreesen. Effektvoll inszeniert in meist düster gehaltenen Farben und Kulissen, gemixt mit ein Paar Orwo-bunten Rückblenden in die Pionierzeit der Jungs. Viel Strotoskob-Geflimmer, bluttriefende Keilereien, aber auch einige stille und berührende Momente. Vieles bleibt sehr literarisch, besonders die Dialoge, zumal die (sehr überzeugenden) Schauspieler in akzentfreiem Bühnendeutsch parlieren. Die DDR-Rückblenden  wirken allzu putzig und harmlos. Von der eigentlich bitteren Wende-Story wird nur die Oberfläche gespiegelt – wenn auch filmisch durchaus attraktiv  – doch dringt die Geschichte kaum in zeithistorische oder psychologische Tiefen.

BODY***
Janusz, so um die Fünfzig, hübscher Schmerbauch, ist Untersuchungsrichter in Warschau – hart im Nehmen seiner oft recht blutigen Fälle.  Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Tochter Olga, Anfang 20, scheint den Tod der Mutter nicht überwinden zu können, ist magersüchtig. Janusz läßt sie in eine Klinik einweisen, wo sie von der Psychologin Anna therapiert wird. Anna, deren Kind früh verstarb, besitzt zugleich spiritistische Kräfte, weiß wie man zu Verstorbenen Kontakt findet. Sie überredet den skeptischen Janusz schließlich zu einer nächtlichen Sitzung, um ihn und Olga mit der toten Mutter in Verbindung zu bringen.  Der polnische Wettbewerbsbeitrag von Malgorzata Szumowska balanciert auf den schmalen Grad zwischen Realität und Groteske, mischt Trauer  und Tod mit (katholischem) Glauben und Esoterik, Einsamkeit mit Freßlust, häßliche oder komische  Alltags-Tragödien mit schwarzem Humor. Ein locker inszeniertes und darstellerisch trefflich besetztes Spiel – mal ernst, mal skurril – und mit einer überraschender Auflösung .

POD ELECTRICHESKIMI OBLAKAMI (Unter elekrtischen Wolken)***
Russland, eine weite, karge Winterlandschaft an einem grossen Fluß. Beton-Ruinen von Häusern und Brücken überall, ein mannshohes Pferd aus Metall-Draht, der Rest einer Lenin-Statue mit ausgestrecktem Arm – und alles in bleiern-dichten Nebel eingehüllt. Der Besitzer dieser riesigen, unwirtlichen Baufläche, auf der Menschen aller Art unentwegt umherirren, ist gestorben. Seine Tochter Sasha kehrt als Erbin aus dem Ausland zurück: denkt an einen Verkauf des Geländes an zahlungswillige Japaner. Doch ein Architekt (mit Feuermal im Gesicht) macht Einwände, ein Toristenführer, der einst mit Jelzin in Moskau demonstrierte, mischt sich ein, kirgiesische Arbeiter suchen ihre Kollegen. Am Ende, nach gut zwei Stunden, zieht Sasha mühsam das Metallpferd aus dem Film-Bild. Surreale Szenen, in sieben Kapiteln gegliedert, fügt der russische Regisseur Alexey German Jr. zu einem scheinbar endlosen, langsamen dahin fließenden Bilderstrom, der die historische und kulturelle Vergangenheit Russlands und seine mögliche Zukunft reflektieren soll. Eine sehr apokalyptische Vision, die – vor allem für nicht-russische Zuschauer – oft sehr rätselhaft bleibt. Das Datum „100 Jahre Oktoberrevolution“ war – so der Regisseur -  der Anlaß für diese gewaltige, surreale Bild-Phantasmagorie mit ihren düsteren, geschichts-philosophischen  Untertönen. „Was ist im Jahr 2017 los“ fragt einmal eine Figur. Antwort: „Krieg“!

EISENSTEIN IN GUANAJUATO***
In den Jahren 1931/32 hielt sich der damals schon weltberühmte, sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein („Panzerkreuzer Potemkin“/ „Oktober“) längere Zeit in Mexiko auf. Er beabsichtigte einen Film über dieses Land zu drehen, das die Entwicklung von den Mayas bis zur (linkssozialistischen) Gegenwart in mehreren Episoden schildern sollte. Doch die amerikanischen Geldgeber, darunter der Schriftsteller Upton Sinclair, entzogen ihre finazielle Unterstützung, als das Unternehmen sich in ihren Augen zulange hinzog. Eisenstein musste nach Moskau zurück, das abgedrehte Filmmaterial verblieb – entgegen einer urspünglichen Abmachung -  in Hollywood.
(Teile daraus wurden später von mehreren Filmwissenschaftlern zusammengestellt und veröffentlicht, ohne daß es gelang die von Eisenstein unter dem Titel „Que Viva Mexico“ beabsichtigte Fassung zu rekonstruieren). Der britische Regisseur Peter Greenaway (71), der vor vielen Jahren mit seinem „Kontrakt des Zeichners“ bei der Berlinale (Forum) seinen großen Durchbruch feierte, hat sich für „Eisenstein in Guanajuato“ eine Episode ausgedacht, in welcher der 33jährige Sowjet-Künstler seine (bisher verborgene) Homosexualität entdeckt und sich auf eine kurze Affäre mit seinem mexikanischen Führer einlässt. Greenaway entfesselt ein fulminantes Feuerwerk aus mexikanischen Landschaften, pitoresken Häusern, Art-Deco-Interieurs, alten Maya-Zeichnungen, Symbolen und historischen Gemälden. Sommerlich-elegante Kostüme der 30er Jahre, junge Frauen in folkloristischen Kleidern, bärtige Männer im Zapata-Look. Dazwischen immer wieder Ausschnitte aus den schwarz/weiß Filmen von Eisenstein, oft gesplittet auf dreiteiliger Leinwand. Und viel Musik von Serge Prokofiev, der später für Werke Eisensteins bedeutende Partituren schrieb. Fotografie und Schnitt sind temporeich und mitreissend, gleichsam eine virtuose Annäherung an die berühmte Montage-Technik des Porträtierten. Den verkörpert sehr überzeugend Elmer Bäck, mit wild abstehender Haarmähne und provokanter Zunge ein sympathischer „verstubbelter Clown“ (wie er sich selbst bezeichnet). Schade nur, daß Greenaway sich überwiegend auf das schwule Melodram konzentriert, Figur und Gedankenwelt des Sowjetbürgers und Künstlers nur am Rande lebendig werden lässt. Dennoch: ein filmischer Bilderrausch, so spannend wie farbig.

YI BU ZHI YAO (Gone with the Bullets)*
Eine deftig-turbulente Komödie des chinesischen Regisseurs Jiang Wen. Sein Ausgangspunkt ist ein chinesischer Film aus den 20er Jahren, in dem es um einen Mord an einer Nutte geht. Jiang Wen pardiert und persifliert nicht nur den alten Schwarz-Weiss-Streifen, sondern er mixt mit modernster Technik alle denkbaren Film-Genres zu einer schrillen Klamotte: Hecktische Verfolgungsjagden in Oldtimern; Nachtclub-Shows im mondän-glitzernden Shanghai, Ganoven, die mit der Polizei unter einer Decke stecken, smarte Hochstabler und zwielichtige Frauen: das könnte eine lustige Pereformance werden – doch die grobe Hau-Ruck-Methode, mit der Lustspiel, Krimi, Musical, Sex-Parodie und Actionthriller  miteiander verquirlt und verhampelt werden, produziert statt Scherz, Satire und Ironie nur plattes Kasperle-Theater und gähnende Langeweile.

ELSER***
Person und Geschichte des Georg Elser sind wissenschaftlich gut erforscht, dürften aber einer breiten Öffentlichkeit weniger bekannt sein. Eine löbliche Absicht ist es deshalb, sein Schicksal in einem leicht zugänglichen Spielfilm nachzuerzählen. Am 8.November 1939 hatte der Schreiner Elser, aus dem Schwäbichen stammend, eine selbstgebastelte Zeit-Bombe im Münchner Bürgerbräu-Keller hinter dem Rednerpult Adolf Hitlers versteckt, die auch pünklich explodierte. Doch Hitler hatte seine Rede 13 Minuten früher abgebrochen, um rechtzeitig den Zug nach Berlin zu erreichen, da schlechtes Wetter den eigentlich dafür vorgesehenen Flug verhindert hatte. Elser wurde bald darauf gefasst, verhört, gefoltert und im April 1945 in Dachau hingerichtet, nachdem die Nazis lange Zeit vergeblich nach vermuteten Hintermännern gefahndet hatten. Das Bio-Pic des Münchner Regisseurs Oliver Hirschbiegel („Der Untergang“) ist jedoch recht bieder geraten. In vielen Rückblenden, während der brutalen Verhöre, erinnert sich Elser an die bescheidenen Verhältnisse, in denen er auf dem Dorf aufwuchs, an die unglückliche Ehe seiner Eltern, an seine grosse Liebe zu der verheirateten Elsa und an Freunde, die Kommunisten waren und von den Nazis in Konzentationslager gesteckt wurden. Langsam entwickelt sich der schwäbische Schreiner vom Pazifisten zum entschlossenen Bomben-Attentäter, unschuldig Opfer in Kauf nehmend, um das noch grössere Blutbad des heraufziehenden Krieges zu vermeiden. Christian Friedel verkörpert Elser als grossäugigen Lockenkopf, bleib dabei aber recht eindimensional, während Burghart Klaußner als verhörender Gestapo-Chef ein paar individuelle Züge zeigen darf. Zu den Produzenten des Film gehören mehrere Fernsehanstalten – dort ist dieser „Elser“ sicherlich an der richtigen Stelle  plaziert.

VERGINE  GIURATA***
Hanna ist Waise und wird bei einer befreundeten Familie in den Bergen Albanien großgezogen – ganz im traditionellen Stil und Gesetz (Kanun), nach dem Frauen nur die Rolle der Dienerin zugebilligt wird. Dem kann Hanna entgehen, indem sie männliche Kleidung anzieht, die langen Haare abschneiden lässt, den Namen Mark annimmt und vor den versammelten Männern des Dorfes ewige Jungfräulichkeit schwört. Einige Jahre später, nach dem Tod ihrer Nenn-Eltern, verlässt Mark/Hanna die Berge Albaniens und zieht zu ihrer Nenn-Schwester Lila, die mit Mann und Tochter in Mailand lebt. Zwar ist Mark/Hanna nicht gerade willkommen, und sie hat Schwierigkeiten, sich in der modernen Großstadt zurecht zu finden. Besonders die ihr angenommene, bzw. auferzwungene Männlichkeit irritiert nicht nur ihre Umwelt, sondern vor allem sie selbst. Nur langsam löst sie sich, findet wieder – auch dank ihrer Schwester – zu sich selbst. Die italienische Regisseurin Laura Bispuri verfolgt der Weg Hannas sehr einfühlsam, in ruhigen Sequenzen und mit nur wenigen Dialogen. Symbolische aufgeladene Bilder sollen den geschlechtlichen Zwiespalt zeigen: etwa die vielen unterschiedlichen (halb-)nackten Körper in einem Hallenbad, in dem die Tochter der Schwester  am Training für Synchron-Schwimmen regelmäßig teilnimmt oder ein Bademeister, der ihr sexuelle Angebote macht. Die Irritationen der in einer anarchischen Welt aufgewachsenen Hanna in der modernen Welt Nord-Italiens  überzeugen, die sich anbahnende (glückliche) Lösung ihres Gender-Problems weniger.

CINDERELLA***
Optisch oppulente Verfilmung des bekannten Märchens mit Hilfe von Computer-Technik und Digital-Tricks. Gefällig und unterhaltsam, aber ästhetisch fragwürdig. Regisseur Kenneth Branagh erweist sich als souveräner Hollywood-Routinier, unter den Darstellern triumphiert in der Rolle der bösen Stiefmutter Cate Blanchett als elegante Salon-Megäre. Szenen-Applaus für die virtuos-komische Rück-Verwandlung von Cinderellas goldener Kutsche: Schlag Mitternacht zerfällt sie bei rasender Fahrt in ihre ursprünglichen Bestandteile: Kürbis, Mäuse und Echsen. Der Charme des Films besteht in der leichten (angelsächsischen) Ironie, mit der der gigantische Ausstattungs-Kitsch präsentiert wird.

TEN NO CHASUKE**
Die Engel in einem japanischem Himmel betätigen sich als teetrinkende Drehbuchautoren, die oft über die Verwirklichung ihrer Ideen in der realen Welt – wenn sie auf diese herabblicken – erschrecken. Um eine solche Idee – junges Mädchen wird von Auto überfahren – wieder gut zu machen, senden sie ihren Teeauschenker Chasuke auf die Erde, wo er mit weißen Flügeln durch die Markthallen von Okinawa wandelt – wie einst Bruno Ganz im „Himmel über Berlin“. Dort rettet er nicht nur die stumme Schöne vor dem Autounfall, sondern prügelt sich auch blutig mit Gangster-Banden herum, oder  heilt mit seiner magischen Kraft Blinde und Lahme. Sogenannte ‚philosophische‘ Possen (=Allerweltsweisheiten) und filmische Zitate beflügeln die turbulente Reise des himmlischen Sendboten durch Markthallen und Karaoke-Bars. Nette Grund-Idee, deren Witz sich jedoch sehr schnell erschöpft und in Albernheit ausartet.

SELMA****(Berlinale Special)
Eine zentrale Episode im Kampf von Martin Luther King um die rechtliche Gleichstellung der Schwarzen in den USA. Um ihr Wahl-Recht durchzusetzen, das trotz Gesetz im Staat Alabama durch allerlei Schickanen verhindert wurde, organisieren King, der kurz zuvor den Friedensnobelpreis erhalten hat, und seine Unterstützer im Sommer 1965 einen gewaltlosen Marsch von dem kleine Städtchen Selma nach Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates. Die Polizei küppelt die Schwarzen brutal nieder, doch ist dank der landesweit ausgestrahlten Fernsehbilder und Zeitungsberichte die Empörung so groß, daß Präsident Lyndon B.Johnson den „Voting Right Act“ unterschreibt. Der Film der schwarzen Regisseurin Ava DuVernay ist kein umfassendes Bio-Pic Martin Luther Kings, sondern konzentriert sich ausschließlich auf seine Beteiligung an den Vorkomnissen in und um Selma. Dabei gelingt es der Regisseurin vortrefflich, das historische Geschehen – den dreifachen Anlauf des Marschens – in opulenten, wenn auch unpathetischen Bildern zu zeigen und zugleich die Reflexionen, Strategien wie auch Selbstzweifel von King und  seinen Mitarbeitern deutlich werden zu lassen. Ausführliche Diskussionen mit seiner Ehefrau, mit gewaltbereiten Schwarzen oder dem amerikanischen Präsidenten verdeutlichen die vielschichtige historische Situation, deutet aber auch Folgen an, die bis heute virulent in den USA sind.  Grosses, engagiertes Kino im Hollywood-Stil – obwohl vom Studio nur unter „Indipendent“- Bedingungen (geringes Budget, keine Stars) produziert.  Ein schöner Erfolg: die Oscar- Nominierung als ‚Bester Film‘.