Groteske Revue: ‚Candide‘ in der Komischen Oper Berlin***

Auf der dunklen Bühne schält sich im Spotlicht aus einer riesigen Barock-Perücke ein Mann in Kniehosen: der Dichter Voltaire. Kurzerhand stellt er uns – ebenfalls in einen Spotlicht getaucht – seinen Roman-Helden vor: den etwas dicklichen, jungen Mann in bayrischer Lederhose namens Candide. Schnell verwandelt sich Voltaire in Candide‘ s Lehrer verwandelt, flößt ihm und seinen Halbgeschwistern Kunigonde und Maximillian die Idee von der besten aller Welten ein, und erzählt dann im Schnelldurchlauf von der turbulenten Reise seines Schützlings um die Welt. Wie Candide seine geliebte, aber verschwundene Kunigonde sucht, erst in einem wilden Krieg im märchenhaften Bulgarien, dann im vom Erdbeben zerstörten Lissabon, im Flamenco-schäumenden Spanien, auf dem Sklavenmarkt im südamerikanischen Surinam mit seinen blöckenden Wunder-Schafen, im gold-gitzernden Eldorado, später im Glücksspiel-süchtigen Venedig, bis er mit der wiedergefundenen Kunigunde und einer weisen, alten Frau in einem Alpen-Gebirgstal auf einem Bauerhof tätig und glücklich wird.

Regisseur Barrie Kosky und sein Team lassen in ihrer Neu-Inszenierung das 1956 in New York uraufgeführte Musical von Leonard Bernstein als temporeiche, absurd-ironische Revue über die fast leere Bühne der Komischen Oper brausen:  ein groteskes Spektakel aus parodierten Opernarien, gefühlvollem Operetten-Schmalz, flotten Musical-Nummern und schmissigen Tanz-Einlagen. Die Choreographie (Otto Pichler) spielt dabei eine entscheidende Rolle: Alle und Alles drehen sich, springen und wirbeln ohne Unterlass: die wilden „bulgarischen“ Soldaten, Kunigonde an der Tabel-Dance-Stange („Glitter and Be Gay“), die zackigen Flamenco-Spanier, die Krücken schwingenden Krüppel im elenden Amerika oder die weißen Clowns-Masken in nächtlichen Venedig.

Gespielt und gesungen von einem temperamentvollen Ensemble: Allan Clayton als tenoral-glänzender und naiver Bubi Candide, Nicole Chevalier als verführerisch-elegante, aber gesanglich an Grenzen stoßende Kunigonde, Anne Sofie von Otter als alt-kluge Pennerin, Franz Hawlata als erzahlender Voltaire und zugleich optimistisch-philosophierender Lehrer mit schrägem Wiener Schmäh sowie der fabelhafte Chor und die zahlreichen Sänger-Darsteller in grell-pointierten Nebenrollen.

Jordan de Souza leitet das Orchester: oft sehr laut und dröhnend, doch in den Solo-Nummern unterstützr er die Sänger sehr geschickt und delikat, den Tänzer heizt er rythmisch kräftig ein.

Doch so einfallsreich und hoch-komisch die Reise-Stationen ausfallen, so kunter-bunt kostümiert die einzelnen Szenen auch ausfallen, zu einem überzeugenden Ganzen fügt sich das raffinierte Puzzel-Spiel kaum. Bernstein hat zwar ein paar mitreißende Musik-Nummern erfunden, aber dazwischen auch viel heiße Theaterluft frei-gelassen. Die ironischen Zuspitzungen und absurden Übertreibungen des Stücks mögen in den 1950er Jahren noch als kleine Provokation empfunden worden sein, heute dagegen schmeckt der alte Witz leicht abgehangen und fade. Wahrscheinlich haben Bernstein und seine Mit- Autoren das schon selbst empfunden oder geahnt – die vielen Umbearbeitungen und Neufassungen des „Candide“ sind dafür ein Beleg. (Die Komische Oper spielt eine neue Übertragung in deutscher Sprache von Martin G.Berger, 2017).

Fazit: auch Barrie Kosky vermag  – trotz aller szenischen Phantasie –  nicht, die ironische Groteske  in ein komödiantisches  Meister-Musical zu verzaubern.

Premiere: 24.November 2018